Pathos und Katharsis

Unter dem sanften Wolkenflügel,
So majestätisch, wie ein Thron,
Erstrahlt ein kleiner, nackter Hügel
Im Tale namens Ayalon.

Aus einem Hain von Traubenzweigen,
Der stummen Mönche teurer Pracht,
Betracht‘ ich dich, so kühn und eigen,
Dein glattes Haupt voll mystisch Macht.

Welch einzigartige Geschichte
Mag wohl auf deinem Buckel ruh’n?
So zög’re nicht, erzähl, berichte!
Damit du sprichst, was soll ich tun?

Herbeigeeilt und raufgestiegen,
Nehm’ ich auf deiner Spitze Platz.
Nun rede doch! Genug geschwiegen!
Enthülle deinen edlen Schatz!

Doch liegst du schweigend unter Steinen.
Erlaub‘ mir dann, da du nicht hörst,
Dir zu entführen diesen einen,
Bloß bis du ihn zurück beschwörst.

Kein Laut – deiner Erlaubnis Zeichen?
Ein Ja ist wo kein klares Nein.
Jetzt hebe ich vom sandig weichen,
Des Hügels Rücken einen Stein.

Und halte diesen kargen Brocken
In meinen feuchten Händen fest,
Und denk‘, falls er nicht zu verschrocken,
Was er bloß von sich hören lässt?

Und kaum ist mein Gedank‘ vollendet
Spür ich den Blick des kleinen Steins,
Und fühl‘, wie er mir etwas sendet.
Ist’s die Geschichte deines Seins?

Nur fort, ich hab mich treu ergeben
Dir zuzuhören bis zum Schluss!
Erzähle mir von deinem Leben,
Sprich alles, was ich wissen muss!

„So sei es, Fremder, schweig und höre!“
Ertönt in meinem Kopfe klar,
„Doch just bevor ich spreche, schwöre,
Dass du behältst, was heute war

Und noch geschieht für dich alleine!“
„Ich schwöre!“ – antwort‘ ich sofort.
Er sagt zufrieden: „Hör nun meine
Geschichte über diesen Ort.

Verloren bin ich in der Zeit,
Nur der Allmächt’ge weiß, wie lange
An diesem Ort der Grausamkeit
Ich um die Menschenrasse bange.

So viel gesehen und erlebt
Hab ich in Hundert Tausend Jahren.
Von der Geschicht‘, die an mir klebt,
Kann ich nicht alles offenbaren.

Du hörst wohl das, wonach du fragst,
Sei bloß gewarnt, du hörst nichts Gutes,
Damit du später nicht beklagst
Was du erfährst vom Ort des Blutes.

Vom alten Akko bis Eilat,
Vom Toten bis zum Mittelmeere
Ist reich gestreut die Todessaat –
Ein ehrenvolles Werk der Heere

Von Norden, Süden, Ost und West.
Sie kamen täglich, um zu ernten,
Was nicht geerntet hat die Pest,
Die sie bald selber kennen lernten,

Wenn nicht bereits durch Schwert bestraft –
Ein Akt inflationärer Mehrung
Von scharlachrotem Lebenssaft,
Der weltlich anerkannten Währung.

Ja, blutdurchtränkt ist dieses Land,
Was hier gedeiht, es wächst auf Leichen,
Die unter diesem toten Sand
Wohl bis zum Kern der Erde reichen.

Meine Erinn’rung kennt nur eins –
Gewalt, von Hass und Groll getragen,
Und Berge menschlichen Gebeins,
Die aus der Oberfläche ragen.

Gelobter Boden? Keine Spur.
Meine Bescheidenheit ist schlauer –
Gelobt und heilig sein kann nur
Der Mensch. Kein Ort und keine Mauer.

Doch blind und taub ist dein Geschlecht.
Moral – von Ehre überwunden –
Utopisch. Es wird nur gerächt,
Gekämpft, geschlachtet und geschunden.

Seit die Natur mich hergestellt,
Verweile ich an dieser Stelle,
Beobachte das wüste Feld,
Und der Erob’rung jede Welle.

Noch ist kein einzig General
Nicht blutbefleckt vorbei gegangen,
Kein Jäger nach dem hehren Gral
Des Heil’gen, der am Kreuz gehangen,

Ist unversehrt zurückgekehrt,
Den noblen Reichtum nicht erworben.
Hat and’ren bloß den Tod beschert,
Bis schließlich ohne Sinn gestorben.

Jedoch das grausamste Gefecht
In diesen trostlosen Regionen,
Ich nenn’s das grässlichste, zu Recht,
War das Gefecht der Religionen.

Verzeihung, ’s war nicht nur, es ist
Und, wie es scheint, wird ewig bleiben –
Die Schlachtzugsfahne hoch gehisst,
Gestählter Todesklingen Reiben.

Mal Kreuz, mal Sichel, mal ein Stern
Erschien an dieses Fleckchens Stirne,
Oh, wie sie dieses Land begehr’n,
Als wär es ihres Glaubens Dirne.

Entsprechend mit Respekt besinnt,
Wird stets um Prävalenz gerungen.
Die Zeit und frisches Blut verrinnt,
Doch nach wie vor ist nichts gelungen.

Solange nicht geachtet wird
Was andre glauben, denken, preisen,
Wer weiß, was alles noch passiert,
Die weltlich Ordnung kann entgleisen.

Ach, taub und blind und endlos dumm
Erscheint mir deine ganze Rasse.
Der Schöpfer, voller Scham, ist stumm,
Beim Anblick dieser Mördermasse.

Er gab euch das Geschenk des Seins,
Das Leben! Und was lasst ihr sprießen
Just hier, inmitten des Gesteins?
Ich seh’ bloß „Nächstenliebe“ fließen!

Ihr glaubt an Ihn, so ehrlich, fest,
Und viele meinen auserkoren
Zu sein. Doch merkt, dass ihr vergesst
Auf Hochmuts brüchigen Emporen:

Ihr allesamt gedeiht und lebt
Dank Ihm, gleichgültig welchen Namen
Ihr Ihm beim täglich Beten gebt,
Wenn ihr Ihm dankt für dies Examen,

Denn mehr ist diese Gabe nicht.
Ihr habt nicht Recht und Macht zu richten,
Wer gläubig ist, denkt oder spricht –
Das wird Er selbst für sich verrichten.

Doch wer behauptet, dass er Gott
Verehrt – und mordet dabei fleißig,
Gehört für mich zum höchsten Spott,
Der ist ungläubig, so viel weiß ich!

Erzähle du mir, was ihr wollt
Erzwingen durch euer Verhalten?
Was ist der Grund, warum ihr tollt?
Weshalb lässt niemand Gnade walten?

Was stört euch an des and’ren Sinn,
An seinem Ausseh’n und Glauben?
Wie seht ihr Logik denn darin,
Das Leben anderen zu rauben?

Sag du es mir, was ist der Grund?
Ach, Mensch, sag’ lieber gar nichts, schweige!
Nein, sprich nicht, halte deinen Mund!
Steh langsam auf. Steh auf und steige

Von diesem Hügel nun hinab,
Und folge jenem Weg nach Westen.
Die Anweisung, die ich dir gab,
Ist für uns beide nur zum Besten.

Genug des Bluts hab ich geseh’n,
Genug der Dummheit deinesgleichen.
Nur dort, wo Meereswinde weh’n,
Wo niemals eure Füße reichen,

Ist Frieden, Ruhe, Allianz
Mit allen Glauben, allen Arten.
Dort gibt es keine Diskrepanz,
Idyllisch, wie im Himmelsgarten.

Da steh’n wir nun, im alten Port,
In uns’rem Rücken hohe Türme,
Aus einem tönet Menschenwort,
Gebetsgesang durch Wind und Stürme,

Die andren läuten stündlich, laut,
Mit ihren kreuzverzierten Glocken.
Gen’über ist ein Haus gebaut,
Das nicht ästhetisch, sondern trocken,

Nicht prunkvoll, nur allein zum Zweck
Errichtet wurde – nicht als Tempel!
Drei Glaubenshäuser Eck an Eck,
Nur folgt kein Mensch diesem Exempel.

Ich kann kein täglich Leid mehr seh’n,
Es wird mit jedem Schritte schlimmer,
Die Zeit lässt sich nicht rückwärts dreh’n,
Und vor mir ist kein Hoffnungsschimmer.

Einen Gefallen, junger Mann,
Musst du mir bitte noch erfüllen,
Da ich’s nicht selbst verrichten kann,
Doch auch mich selber nicht verhüllen

Vor allem, was um mich geschieht.
Drum schenk’ mir den verdienten Frieden,
Wirf mich so weit, wie kein Mensch sieht,
Ins tiefe Meer, vom Land geschieden,

An einen Ort, wo niemand ist,
Wo die Gewalt mich nicht berühret,
Wo mein Gedächtnis rasch vergisst
Dass ihr die Welt ins Grabe führet.

Wag keinen Laut, hol aus und schmeiß
Mit aller Wucht mich in die Wogen!
Entreiß mich eurem Teufelskreis,
In dem wird bloß geschwatzt, gelogen,

Und fängt von vorne wieder an.
Ich kann und will’s nicht mehr ertragen!
So heftig wie dein Arm nur kann
Musst du mich in die Wellen jagen.

Was zögerst du? Ich fleh zu dir
Mich zu befreien, lass mich fliegen!
Nicht dann, nicht dort, nur jetzt und hier
Möcht ich mich an den Meergrund schmiegen.“

Ich sah erneut in meine Hände.
„Na los!“ Und weiter nur noch still…
So mach ich seinem Leid ein Ende.
Wenn’s das ist, was der Arme will.

Des Menschen endlos dumme Taten,
Nach Hundert Tausend Jahren Qual,
Den letzten Todesautomaten
Sahst du gerad‘ zum letzten Mal,

Auch deine letzte Meeresbrise.
Ab nun gibt’s keine Wiederkehr!
Mit Zögern hol’ ich aus und schieße
Den kleinen Brocken weit ins Meer.

Sein Wort entflammt in mir Gedanken,
Dass mein Bewusstsein rasch erwacht.
Und ewig werde ich ihm danken
Für das, worauf er mich gebracht.

Der weise Stein, der nun versunken
Im friedlichen Gezeitenreich,
Wollt’ übertragen diesen Funken:
„Vor Gott sind alle Menschen gleich!“

29.10.2008


Erschienen in

Herzhände
Engelsdorfer Verlag
ISBN-10: 3869016965
ISBN-13: 978-3869016962
Erhältlich z.B. bei: www.amazon.de